Interview mit einem Mönch

«Je grösser das Ego, desto verwundbarer ist man»

Matthieu Ricard hatte eine vielversprechende Karriere in der Molekularbiologie vor sich, als er beschloss, buddhistischer Mönch zu werden. Heute ist er als Mittler zwischen Ost und West und Übersetzer des Dalai Lama weltweit unterwegs. Auch wenn er seinem Ich nicht länger anhaftet, die Egos der Westler lassen ihm keine Ruh.

Herr Ricard, obwohl Sie 1946 geboren wurden, sagen Sie, Ihr wahres Leben habe erst am 2. Juni 1967 begonnen. Was geschah an dem Tag?

Ich begegnete meinem ersten Meister, dem Weisen Kangyour Rinpoche. Es war Zufall. Ich wollte den Himalaja bereisen, war gerade in Darjeeling angekommen und hielt mich in der Mission eines Jesuitenpaters auf, als dort der Sohn von Kangyour Rinpoche auftauchte, um eine kleine monatliche Unterstützung abzuholen, die ein französischer Arzt dem Meister zukommen liess. Ich ging mit ihm. Kangyour wohnte in einer winzigen Holzhütte, seine Frau war da, zwei Töchter, einer seiner Söhne und ein Kalligraf, der Texte kopierte. Kangyour Rinpoche war damals siebzig. Er lehnte mit dem Rücken an einem Fenster und strahlte vor Güte. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukommt, aber ich bin drei Wochen geblieben, habe auf dem Boden geschlafen. Sobald wir aufwachten, war es ein Sitzen in seiner Präsenz.

Wie haben Sie ihn als Meister erkannt?

Von ihm gingen eine Kraft, eine Ruhe und eine Liebe aus, die nur schwer zu beschreiben sind. Obwohl ich die Sprache nicht verstanden habe, konnte ich die Vollkommenheit dieses Menschen spüren. Da war jemand mit einer immensen Weisheit, einer vollkommenen Menschenliebe – keine weiche, oberflächliche Freundlichkeit, sondern etwas Generöses, Mitfühlendes. Das kann man spüren, eine Ausstrahlung, wie sie auch der Dalai Lama hat; es ist ein ganz anderes Kaliber, als man es normalerweise trifft. Diese tibetischen Meister sind das Ebenbild dessen, was sie predigen. Auch nach vielen Jahren, in denen ich ihn und andere näher kennenlernte, hielt der Eindruck stand. Worte und Taten sind stimmig.

Als junger Mann kannten Sie bereits viele beeindruckende Persönlichkeiten. Ihr Vater war der Philosoph Jean-Francois Revel, Ihre Mutter ist die Künstlerin Yahne Le Toumelin – das intellektuelle Paris ging in Ihrem Elternhaus ein und aus.

Ja, zu uns kamen Philosophen, Mathematiker, Musiker, Maler, Wissenschafter, Schauspieler, Denker, lauter berühmte Köpfe. Meine Mutter hat für alle gekocht, sie war eine sehr gute Köchin. Sicher war dieses Umfeld in vielerlei Hinsicht bereichernd, aber bei mir hat es nie klick gemacht: Ich habe nie den Wunsch verspürt, Mathematik zu beherrschen wie X oder Klavier zu spielen wie Y. Im Gegenteil: Ich wollte nicht so werden wie sie. Wenn du hundert Gärtner, hundert Philosophen, hundert Musiker nimmst, bekommst du immer denselben Mix an wundervollen, langweiligen, schwierigen, unausstehlichen Menschen; das fand ich rätselhaft. Für mich war kein Vorbild darunter. Das Talent oder das Genie, das sie in ihren Fachbereichen zeigten, ging nicht mit einfachen menschlichen Tugenden wie Uneigennützigkeit, Güte oder Aufrichtigkeit einher. Ich wollte jemanden nicht nur aufgrund seiner Fähigkeiten bewundern, sondern als Menschen. Jemand, mit dem man wirklich gern zusammen ist, aber das kam nicht oft vor.

Wie kamen Sie zum Buddhismus?

In meiner Jugend entwickelte ich ein gewisses Interesse an Spiritualität. Meine Mutter und mein Onkel, der Seefahrer und Abenteurer Jacques-Yves Le Toumelin, hatten viel darüber geschrieben – Bücher, nichts Lebendiges, keine Übungen. Als ein befreundeter Filmemacher eine Dokumentation über das Leben tibetischer Meister schnitt, zeigte er mir das Material, und ich wusste sofort: «Wow! Da sind sie. Die habe ich gesucht.» 1967 bin ich dann auf nach Darjeeling, mit einem kleinen Reisewörterbuch, denn ich sprach kein Englisch, in der Schule hatte ich Latein und Griechisch gelernt. Und gleich der Erste, den ich traf, wurde mein wichtigster Lehrer: Kangyour Rinpoche.

«In der Meditation lernt man, Leid verursachende Gefühle wie Ärger, Stolz oder Eifersucht zu erkennen, Abstand zu ihnen zu gewinnen und sie letztlich aufzulösen.»

Wer war dieser Mann?

Im Buddhismus spielt die mündliche Überlieferung eine grosse Rolle, auch heute noch. Kangyour Ringpoche war bekannt als Tipitaka-Meister: Er hat die Sammlung der Lehrreden des Buddha – insgesamt 103 Bände – dreissig Mal vollständig rezitiert. Das ist aussergewöhnlich. Er war kein Mönch wie der Dalai Lama, sondern hatte Familie. Zwei seiner Söhne sind heute meine Lehrer, einer ist so alt wie ich, einer ist fünfzehn Jahre jünger.

Sie haben damals Molekularbiologie studiert und sich am Institut Pasteur in Paris habilitiert. Sie forschten unter der Leitung des Nobelpreisträgers François Jacob. Vor Ihnen lag eine vielversprechende Karriere als Wissenschafter. Fiel es Ihnen leicht, all das hinter sich zu lassen?

Es gab eine Zeit der Selbstprüfung. Ich bin zirka sieben Jahre zwischen Paris und Darjeeling hin und her gereist. Es wäre unreif gewesen, sofort dazubleiben und alles abzubrechen. Es hätte vermutlich nicht funktioniert, und mein Vater wäre noch mehr verärgert gewesen. Meine Forschung in der zellulären Genetik war durchaus interessant, und ich wollte auch meinen Beitrag leisten, etwas zurückgeben. Aber es wurde jeden Tag klarer: Wenn ich bei meinem Meister in Darjeeling war, war ich ruhig und zufrieden, am Institut in Paris hingegen drifteten meine Gedanken ständig ab in den Himalaja.

Es waren die späten 1960er Jahre, Flower-Power, Aufbruchstimmung. Spielte das eine Rolle?

Die Beatles habe ich erst vor zehn Jahren entdeckt, ich war nicht der Partytyp. Ich spielte klassische Gitarre, aber nur Bach. Ich hatte viele Freunde, spielte Fussball, beobachtete Vögel, ging mit den Vogelkundlern campen. Mich interessierten die Natur, Astronomie, Fotografie, Wissenschaften. Ich war auch nicht an denselben Dingen interessiert wie meine Eltern. Wir hatten wenig gemeinsam, nur Musik und Sport. Ich war befreundet mit einem Mann, der in Frankreich im Wald lebte und mich viel gelehrt hat. Ursprünglich wollte ich Arzt werden. Aber mein Vater hat gesagt, die Biologie sei ein Feld mit Zukunft. Es war das einzige Mal, dass ich auf Anraten meines Vaters einen Plan geändert habe.

Wie hat Ihr Umfeld auf Ihren radikalen Entschluss reagiert?

Mein Doktorvater war nicht überrascht. Er wollte mich eigentlich nach Amerika schicken, damit ich dort als Postdoc weiterforschte. Ich hätte das Labor also ohnehin verlassen, nur tat ich es in die andere Richtung. Für meinen Vater war es ein Schock. Zum Glück hat er kein Drama daraus gemacht; ich mag keine Dramen. Ein Freund vom ihm erzählte mir später, er habe geweint. Und meine Mutter ist selber buddhistische Nonne geworden. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich ein Teenager war. Meine Mutter war schon immer an Spiritualität interessiert gewesen, ich ging 1967 zum ersten Mal nach Indien, sie ging 1968 und legte sofort das Gelübde ab. Ich wurde erst zehn Jahre später Mönch.

Gab es im Laufe Ihres Lebens jemals Zweifel an der Entscheidung?

Ich habe es keine Sekunde bereut. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der aus dem Käfig befreit worden war. Freiheit! Ich konnte fünfzig Jahre mit meinen Lehrern verbringen.

Molekularbiologe und Mönch

Matthieu Ricard, geboren 1946 in Aix-les-Bains in Frankreich, ist ein buddhistischer Mönch. Er absolvierte ein Studium in Molekularbiologie mit Abschluss in Zellulargenetik und Promotion bei dem Nobelpreisträger François Jacob am Institut Pasteur. Sein Vater war der Philosoph Jean-François Revel. 1967 begegnete Ricard dem Weisen Kangyur Rinpoche, seinem ersten buddhistischen Meister. Als Kangyur starb, wurde Matthieu Mönch und persönlicher Assistent von Dilgo Khyentse Rinpoche, mit dem er zwölf Jahre verbrachte. Seit 1989 ist er offizieller Französisch-Übersetzer für den Dalai Lama und gehört zu dessen engerem Zirkel. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftern beschäftigt er sich mit der Wirkung von Meditation und Geistestraining auf das Gehirn. Zuletzt erschien von ihm und dem Hirnforscher Wolf Singer beim Suhrkamp-Verlag das Buch «Jenseits des Selbst. Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch». Ricard lebt im Kloster Shechen in Nepal.

Die überwältigende Präsenz des Meisters, die Sie schildern, ist naturgemäss ein subjektiver Eindruck, nicht wahr?

Das kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber wenn ich mit anderen Schülern spreche, fühlen wir dasselbe: Respekt, Hingabe, den Wunsch, nicht von ihm getrennt zu werden. Es ist keine merkwürdige Situation wie in einer Sekte, wo Menschen kontrolliert werden – nichts dergleichen. Dem Meister ist es vollkommen egal, ob er einen Schüler mehr oder weniger hat. Er erwartet nichts Materielles. Es hat nichts von all dem, was wir bei den Scientologen oder anderen Sekten sehen, die Menschen systematisch rekrutieren oder in Abhängigkeit bringen. Der Meister hat nichts zu gewinnen, nichts zu verlieren, nur etwas anzubieten und zu teilen.

Beurteilt er seine Schüler?

Er kennt dich besser als du dich selbst . . . Es gibt einen grundsätzlichen Rahmen von Übungen und Lehren, aber der Lehrer weiss, was du am meisten brauchst. Manche haben Schwierigkeiten mit Wut, Begehren, Dummheit oder Faulheit; wir alle haben irgendwelche Hindernisse. Wenn du ein nervöses oder ängstliches Naturell hast, geht es darum, das richtige Gegenmittel zu finden. Der Meister kann die Aufgaben durch unterschiedliche Übungen anpassen, aber es gibt kein Abfragen im klassischen Sinne.

Gibt es unterschiedliche Begabungen für diesen Weg?

Es braucht Hingabe, Einsichtsfähigkeit, Disziplin, Urteilsvermögen. Wenn du Freude und Zufriedenheit an der falschen Stelle suchst, wenn du glaubst, ein Ferrari bedeute Glück, dann brauchst du lange. Das Verstehen geht tiefer: Es geht um Mitgefühl und Uneigennützigkeit, das Wesen der in sich verflochtenen Welt. Sich auf den Weg machen kann jeder.

Wie sah Ihr neues Leben aus?

Kangyour Rinpoche gab mir verschiedene Übungen: Meditationen, Visualisierungen, Denkübungen über Ewigkeit, Tod, den Wert des Lebens. Er riet mir, Tibetisch zu lernen. Zunächst fokussierte ich mich auf die Übungen, dann auf die Sprache. Ich blieb bis zu seinem Tod bei ihm. Mein zweiter Lehrer, Dilgo Khyentse Rinpoche, lehrte nonstop: manchmal 5 Leute, manchmal 10 000 Leute, ich war immer bei ihm, war dem also permanent ausgesetzt. Es waren Lehren aus Texten und Lehren aus seinem Herzen. Er hatte dreissig Jahre in der Zurückgezogenheit gelebt, bevor er anderen das Geschenk der Lehre machte.

Buddhismus ist eine Schulung des Geistes. Können Sie das erläutern?

Es geht um das Abschaffen des Ursprungs von Leid. Was soll irgendeine Lehre, wenn sie nicht als Antidot zu Leid dient? Sehr viel Leid ist «mind made», es entsteht im Kopf, in unserem Denken. In der Meditation lernt man, Leid verursachende Gefühle wie Ärger, Stolz oder Eifersucht zu erkennen, Abstand zu ihnen zu gewinnen und sie letztlich aufzulösen. Es geht nicht darum, irgendwas zu glauben. Zwar bedarf es eines gewissen Vertrauens in den Meister und seine Lehren – nicht anders als in jeder Schule, aber Schritt für Schritt stellt man fest, dass man Fortschritte macht. Ich bin froh, dass ich einige Jahre in der Forschung verbracht habe. Es ist ein vergleichbarer Pfad. Für mich ist Wissenschaft eine rigoros aufrichtige Annäherung an die Wahrheit. Wenn du dich selbst hereinlegst, bringt das gar nichts – wozu? Es ist dasselbe: schlechte Wissenschaft, schlechte Spiritualität. Im Buddhismus geht es nicht um Flugzeuge oder Vögel. Hier ist der eigene Geist das Forschungsgebiet, es geht um Glück und Leid, Ignoranz und Verwirrung. Ich hatte nie das Gefühl, den Ansatz, den ich aus der Wissenschaft kenne, zu betrügen.

«Es gab eine Zeit der Selbstprüfung. Ich bin zirka sieben Jahre zwischen Paris und Darjeeling hin und her gereist.» – «Aber es wurde jeden Tag klarer». (Bild: Joel Saget / AFP)

«Es gab eine Zeit der Selbstprüfung. Ich bin zirka sieben Jahre zwischen Paris und Darjeeling hin und her gereist.» – «Aber es wurde jeden Tag klarer». (Bild: Joel Saget / AFP)

Leiden ist eine Folge des Nichtwissens, schreiben Sie in «Der Mönch und der Philosoph», einem Dialog mit Ihrem Vater über Buddhismus und Abendland. Und Nichtwissen bedeute im Wesentlichen das Festhalten am Ich. Wieso ist das Festhalten am Ich eine Quelle von Leid?

Ich wache auf, ich lebe, ich habe Hunger. Es gibt die Kontinuität meiner Geschichte, meiner Person, all das, was ich erinnere. Wir haben Empfindungen, wir sind kein Gemüse. Aber aus buddhistischer Sicht wird es problematisch, wenn man zu glauben beginnt, es gebe einen zentralen Kern, eine autonome Einheit, die immer dieselbe bleibe. Wenn man das Ich sucht, findet man es nirgends, weder im Gehirn noch im Herzen oder im Körper – das kann die Neurologie so klar beantworten wie der Buddhismus. Der Rhein ist ein Phänomen, dem man einen Namen gibt. Der Rhein ist nicht der Mississippi. Aber in beiden Flüssen fliesst zu jedem Zeitpunkt anderes Wasser als noch im Moment zuvor. Genauso ist auch der Mensch eine Art Kontinuum. Dein Bewusstseinsstrom ist anders als der eines anderen Menschen, dein Körper ist anders, also gibst du dem einen Namen. Aber da ist nirgends ein konstanter Kern.

Warum macht es einen Unterschied, ob ich mich als Bewusstseinsstrom oder festen Kern verstehe?

Diesen Kern, den wir als Ich bezeichnen, möchten wir vor all dem beschützen, was ihn zurückweist, kränkt, bedroht. Wir möchten ihm Freude bereiten. Es ist eine mentale Konstruktion, um die Beziehungen zur Welt zu vereinfachen. Das ist okay, aber es führt zu «ich» und «meins», zu einer exzessiven Trennung von anderen, die Leiden verursacht. Je grösser das Ego, desto verwundbarer ist man. Der Dalai Lama hängt weder vom Lob noch von der Kritik anderer ab, Erfolg und Misserfolg bedrücken ihn nicht, sie bedrohen seine innere Zuversicht nicht – das bedeutet Frieden. Je transparenter das Ego, desto unverwundbarer ist ein Mensch. Präsident Trump hingegen benimmt sich wie ein kleines Kind, nicht wie ein weiser Mann, er bringt überall Leid hin. Sein Superego ist extrem verwundbar; das sieht man allein daran, wie rabiat er auf alles reagiert, er hält es schier nicht aus, er bewertet alles in Bezug auf sich selbst.

Wie reagiert man am besten auf ein solches Superego?

Die einzige Möglichkeit, darauf zu antworten, ist die, eine andere Kultur zu entwickeln.

Ist das realistisch ?

Die Gewalt geht seit fünf Jahrhunderten stetig zurück. In Europa zu leben, war noch nie so sicher wie heute. Auch global betrachtet sind Folter, Sklavenhaltung, Kriege und Menschenrechtsverletzungen rückläufig. Gewalt herrscht nicht überall. Man kann Kulturen durchaus verändern.

Wer in Meditation geschult sei, finde keine destruktiven Emotionen in den feinsten Ebenen des Bewusstseins, heisst es. Bedeutet das, dass der Mensch im Grunde gut ist?

Es geht nicht um Gut oder Böse. Licht ist nicht sauber oder dreckig, egal, worauf es scheint – einen Müllberg oder Goldmünzen. Es offenbart, legt frei, zeigt auf. Man könnte sagen, es ist gut, denn es ist nicht beschmutzt, nicht bedingt durch Wut, Ignoranz, Anhänglichkeit, Feindseligkeit, Eifersucht, Stolz: All das ist toxisch und die Wurzel von Leid. Durch Training kann man einen Geisteszustand erlangen, der rein ist wie klares Wasser. Und dann ist Mitgefühl möglich.

Der Dalai Lama sagt, der Konflikt der Tibeter mit den Chinesen sei Teil seiner spirituellen Praxis – was bedeutet das?

Wenn du Gewalt und Unterdrückung mit Hass begegnest, bist du der grosse Verlierer, denn du zerstörst deine eigene Praxis, aber du erreichst nichts. Der Dalai Lama ist keineswegs jemand ohne Ziel oder Bestimmung, er hat eine unglaubliche Willensstärke, seine Intention ist es, alles Sein vom Leiden zu befreien. Er ist jemand mit einem transparenten Selbst. Um deine Lebenswünsche zu erfüllen, brauchst du kein Selbst, alles hängt von der Absicht ab. Was Menschen nur schwer verstehen: Selbstlosigkeit bedeutet ultimativen Frieden. Du agierst angemessen und mitfühlend, denn du bist nicht zerrissen von dieser Teilung in «meins» und «deins», dieser Trennung von der Welt, die alles polarisiert.

Schmerz bleibt subjektiv. Die Wahrnehmung von Feinden ist überlebenswichtig.

Klar, wir sind kein Gemüse, wie gesagt. Die Frage lautet: Wie halten wir Aggressoren davon ab, Schaden anzurichten? Wenn mich einer bedroht, schiess ich ihm in die Beine, dann streichele ich seinen Kopf. Das ist nicht dumm. Im Buddhismus gibt es eine Allegorie von 500 Händlern auf einem Boot. Ein Mann will alle anderen töten, ein anderer kann es verhindern, indem er den potenziellen Mörder tötet. Die Situation ist so, dass es keine Alternative gibt. Aus Mitgefühl für seine Mitmenschen tötet der eine also den gefährlichen Mann, nimmt die Gefängnisstrafe in Kauf. Aber es ist keine Spur von Hass in ihm, nur Mitgefühl.

«Wenn man das Ich sucht, findet man es nirgends, weder im Gehirn noch im Herzen oder im Körper – das kann die Neurologie so klar beantworten wie der Buddhismus.»

Liessen sich so nicht viele Gewaltakte rechtfertigen?

Dialog und Gewaltlosigkeit sind immer erste Wahl und alternativlos, solange man die Folgen nicht absehen kann. Oft führen Militäreinsätze zu einer Eskalation wie im Irak oder in Afghanistan, und das ist genau das, was man nicht will. Aber wenn wir die Situation gut genug einschätzen können und es keine friedliche Alternative mehr gibt, kann der Einsatz von chirurgisch präziser Gewalt sinnvoll sein. Entscheidend ist, dass tiefes Mitgefühl Triebfeder ist.

Sie haben mehrmals in der Eremitage gelebt. Wie war das?

Grossartig, wunderschön! Meine längste Zurückgezogenheit dauerte neun Monate, es war eigentlich ein Jahr geplant, aber dann ging das Leben meines Vaters zu Ende, und ich wollte noch etwas Zeit mit ihm verbringen. Der Tag in der Eremitage ist strukturiert, du praktizierst sehr diszipliniert. Du stehst um 4 Uhr 30 auf, betest bis zur Morgendämmerung, rezitierst Texte, die dir dein Lehrer gegeben hat, machst Visualisierungen. Zwischen 7 und halb 8 trinkst du Tee, setzt dich auf den Balkon und betrachtest den Sonnenaufgang oder die Wolken. Dann machst du den ganzen Tag weiter mit deinen Übungen. Nach Sonnenuntergang legst du dich schlafen. Die Qualität des Schlafes wird viel besser, du brauchst immer weniger Schlaf und fühlst dich am Morgen total frisch. Alle zwei Wochen bekam ich Post. Dort, wo ich war, gab es eine minimale Infrastruktur, Leute brachten mir Reis oder Bananen aus dem Dorf mit.

Entspannt zu sein, ist sehr viel leichter, wenn man sich nicht um Arbeit und Familie kümmern muss. Ist das nicht ein elitärer Lebensstil?

Das höre ich oft. Ich antworte dann immer: «Bitte komm!» Keine Heizung, kein Licht. Die meisten Leute würden keine Woche so verbringen wollen. Ausserdem ist es das Ziel einer solchen Abgeschiedenheit, die Selbstbezogenheit loszuwerden. Du kommst ruhiger und mitfühlender da heraus und stellst dich in den Dienst anderer.

Ist das der Grund, warum Sie heute wieder durch die Weltgeschichte reisen, Bücher schreiben, an Konferenzen teilnehmen, Interviews geben?

Ja, es waren die humanitären Projekte, die mich aus den Bergen heruntergeholt haben, nicht Bücher und nicht Konferenzen. Mit all dem könnte ich sofort aufhören. Aber die Shechen Clinic, die heute 40 000 Patienten aus Tibet, Nepal und Indien versorgt, hatte eines Tages nur noch Geld für zwei Monate. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Gleichzeitig erreichten uns mit dem wachsenden Interesse am Buddhismus – sowohl von den Menschen im Westen als auch vonseiten der Wissenschaft – immer mehr Anfragen. Seit ich für den Dalai Lama als Übersetzer arbeite und ihn auf seinen Reisen begleite, kamen noch mehr Aufgaben hinzu. Aber ich muss das wieder reduzieren.

1997 publizierten Sie «Der Mönch und der Philosoph». Es wurde ein Riesenerfolg, es liegen Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen vor. Waren Sie überrascht?

Sehr! Und damit fingen meine Probleme an; davor hatte ich 25 Jahre meine Ruhe. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan, denn es brachte mich in die Situation, der ich eigentlich entkommen wollte. Letztes Jahr hatten wir in der Karuna-Shechen-Stiftung mehr als 500 Anfragen; mir fällt es schwer, Nein zu sagen. Ich fühle mich verantwortlich. Allein neun Mal war ich schon beim World Economic Forum in Davos, hinzu kommen unzählige Konferenzen der Uno usw. Es hatte einen Schneeballeffekt. Das Gute aber ist, dass wir die Tätigkeitsfelder der Stiftung ausbauen konnten: Neben der Gesundheitsversorgung machen wir heute auch Projekte im Bereich Bildung, Wasser- und Stromversorgung, Erdbebenwarnung; davon profitieren 400 000 arme Menschen pro Jahr in den unterversorgten Bergregionen in Indien, Nepal und Tibet.

Wo ist Ihr Zuhause?

Nepal, nehme ich an. In Indien fühle ich mich stimmig, als Mönch entspannt, ungezwungen, niemand kennt mich aus dem Fernsehen. Und Tibet ist das Zuhause meiner Einsiedelei.

Hat ein buddhistischer Mönch Angst vor dem Tod?

Ich kann nicht sagen, dass ich keine Angst habe. Ein Freund von mir hatte Krebs, er war nicht ängstlich, aber traurig, weil es noch so viel gab, was er machen wollte. Ich versuche, nicht wegzuschauen. Ich lebe im vollen Bewusstsein, dass der Tod gewiss ist, der Zeitpunkt unvorhersehbar und jeder Moment unendlich kostbar. Am Anfang unseres Lebens ängstigt uns der Tod wie ein Tier in der Falle, in der Mitte versuchen wir, alles richtig zu machen, so dass wir nichts versäumen, und am Ende sind wir ruhig und klar. Dann ist der Tod wie ein Freund.

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