Eine Weiterleitung, die geschieht selten. Doch hier ist sie angebracht.
Verurteilt zur Freiheit… Last oder Geschenk?
Ein Text von Andreas Dalberg (Autor/Schriftsteller), zu finden auf: https://andreasdalberg.wixsite.com/existenzerhellung/post/die-grundstruktur-der-existenz
Die Grundstruktur der Existenz
Heidegger sieht die grundlegende Existenzstruktur des Menschen darin, dass es dem Menschen „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht“. Ein Satz, der zunächst unverständlich klingt. Berücksichtigt man jedoch, dass Heidegger das Sein des Menschen als Existenz bezeichnet, lassen sich die Begrifflichkeiten ersetzen und die These wird etwas zugänglicher: Dem Menschen geht es (im Vollzug seiner Existenz) um seine Existenz. Vereinfacht gesagt: Es geht ihm um die Art und Weise, wie er sein Dasein (in der Welt) verbringt.
Das mag banal anmuten. Jedoch hat dieser Satz – dass es dem Menschen in seinem Sein um dieses Sein selbst geht – bedeutende Implikationen. Eine ist: Dass der Mensch in einem Verhältnis zu seinem Sein steht. Denn: Geht es dem Menschen um sein Sein, muss er zwingend ein Verhältnis zu diesem Sein haben – andernfalls könnte es ihm gar nicht um dieses Sein gehen. Also sagt Heideggers Satz: Dem Menschen, der in einem Verhältnis zu seinem Sein steht, geht es in seinem Existenzvollzug um die Art und Weise, wie er sein Dasein (in der Welt) verbringt.
In der Rede, dass der Mensch in einem Verhältnis zu seinem Sein steht, liegt eine weitere Implikation: dass der Mensch ein Verhältnis zu sich selbst hat. Entsprechend meint Seinsverhältnis immer auch Selbstverhältnis. Eben weil der Mensch um sich weiß, ihm die eigene Situiertheit (in der Welt) bewusst ist und er damit umgehen muss, befindet er sich in einem Selbstverhältnis. Genau dieses Selbstverhältnis (das zugleich Weltverhältnis ist) macht menschliche Existenz besonders. Einem Stein ist kein Selbstverhältnis eigen. Ein Stein hat kein Bewusstsein von sich, hat keine Beziehung zu sich selbst und zur Welt. Sein Sein ist ein völlig anderes: Er ist bloß vorhanden. Der Mensch indes wacht morgens auf und weiß um sich, ist sich seiner selbst gewahr, als Einzelner in einer Welt zu sein. Existieren bedeutet also, in einem Selbstverhältnis zu stehen.
Das Selbstverhältnis, das ich bin, letztlich: mein Selbst, bildet sich aus durch die Entscheidungen, die ich treffe. Meine Entscheidungen wiederum werden bestimmt von meiner Selbstverfasstheit und Weltsituiertheit. Was damit gemeint ist, wird an einem simplen Beispiel deutlich: Ich wache morgens auf und muss im selben Moment die Frage beantworten: Was nun? Liegenbleiben oder aufstehen? Diese Frage tut sich auf, weil ich in einem Selbstverhältnis stehe – weil ich mich als einzelnen Menschen in einer bestimmten Situation erfasse, die verschiedene Optionen bietet, zu denen ich mich verhalten muss. Um im Beispiel zu bleiben: Womöglich bin ich nach dem Erwachen noch müde und habe das Bedürfnis, im Bett liegenzubleiben, mich zu erholen (Selbstverfasstheit). Zugleich stehe ich in der Verpflichtung zu arbeiten (Weltsituiertheit). Was nun? Ich muss entscheiden, wie ich mich gegenüber meiner weltsituierten Selbstverfasstheit verhalte: wie ich mit meinem erschöpften Selbst umgehe, für das ich verantwortlich bin, wie ich mich zur Welt verhalte, der ich gleichfalls verpflichtet bin. Ich muss also wählen, welche Möglichkeit ich in dieser Situation ergreife. Egal, wie ich mich entscheide: Jede Entscheidung hat Folgen für mein Sein, für mein Selbst und die Welt, in der ich lebe. Im einen Fall würde ich mich erholen, aber meine Kollegen mehrbelasten; im anderen käme ich meinen Verpflichtungen gegenüber anderen nach, nähme jedoch keine Rücksicht auf mich. Und nun?
Weil sich der Mensch gewahr ist, dass sich all seine Entscheidungen auf sein Sein auswirken, ist er immer schon daran interessiert, sich mit seinem Sein zu beschäftigen – infolgedessen geht es ihm auch immer schon um sein Sein.
Diese Formulierung – dass es dem Menschen in seinem Sein um sein Sein selbst geht – hat also nichts mit Egozentrik oder Egoismus zu tun; sie beschreibt lediglich die Grundverfasstheit des Menschen, dass er immerzu vor Entscheidungen steht, die er zu treffen hat und die sich auf ihn und die Welt, in der er lebt, auswirken. Er ist nicht nur morgens, nicht nur ein Mal am Tag, sondern immer wieder aufs Neue herausgefordert, auf die Was-nun?-Frage zu antworten. Immerzu muss er entscheiden, wie es mit seiner Existenz weitergehen soll, welche Richtung er seinem Dasein geben soll – anders als ein Tier, das allein seinen Instinkten und Trieben folgt, von der Was-nun?-Frage nicht geplagt wird und gemäß seiner natürlichen Anlage vor sich hinleben kann. Dem Menschen hingegen tun sich im Existenzvollzug stets neue Möglichkeiten auf, zu denen er sich verhalten muss. Zu existieren bedeutet daher genau dies: Möglichkeiten zu haben und daraus zu wählen.
Aufstehen oder nicht? Frühstücken oder nur Kaffee trinken? Das blaue oder weiße Hemd? Was auf den ersten Blick bedeutungsarm erscheint, vermag bei genauerer Betrachtung existenzielle Wucht zu entfalten: In jeder Sekunde meines Seins stehen mir unzählige Möglichkeiten offen, nicht nur von geringer oder mittlerer Relevanz, auch von großer Tragweite: Ich kann jederzeit den Arbeitsplatz wechseln, einen neuen Beruf ergreifen, mich scheiden lassen, auswandern oder meinem Leben ein Ende setzen. Derlei Möglichkeiten stehen immer offen, mögen sie auch im Alltag faktisch ausgeblendet werden.
Menschsein heißt immer schon: Möglichkeiten haben und daraus frei wählen. Ja, Menschsein heißt Möglichsein – ich bin meine Möglichkeiten (die ich gewählt habe). Zwar bin ich nicht frei in der Wahl, welche Möglichkeiten ich habe – es gibt immer Faktizität, die meine Möglichkeiten beschränkt; Umstände, die ich nicht ändern kann. So bin ich beispielsweise in eine geschichtliche Situation hineingeboren, die ich nicht gewählt habe. Bin ein Körper mit einer Veranlagung, über die ich nicht verfügen kann. Und meist gibt es in meinem Umfeld Menschen, die mein Leben mitbestimmen oder gar Macht darüber haben. Vieles kann ich nicht ändern. Aber es liegt doch allein an mir, wie ich mit solchen Umständen umgehe, welche der mir offenstehenden Möglichkeiten ich wähle. Was nun? Ich kann mich fügen, anpassen, unterwerfen; kann widersprechen, aufbegehren, mich verweigern, kämpfen. Kann resignieren, hinnehmen, annehmen…
Aufgrund der Faktizität verfügt der Mensch nur bedingt darüber, welche Möglichkeiten ihm offenstehen. Worüber er jedoch nicht einmal ansatzweise verfügt, ist der Umstand, dass er immerzu entscheiden muss. Denn, wie Sartre sagt: Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt. Im Existenzvollzug tun sich nämlich immerzu neue Möglichkeiten auf, die nach einer Entscheidung verlangen. Genau darin (dass er immerzu eine Wahl hat) besteht die existenzielle Freiheit des Menschen; genau darin (dass er immerzu eine Wahl zu treffen hat) besteht aber auch seine existenzielle Verpflichtung.
Entsprechend bedeutet zu existieren auch, die eigene Existenz, das eigene Freisein tragen zu müssen. Heidegger spricht hier von der Jemeinigkeit der Existenz. Damit ist schlicht der Umstand gemeint, dass allein ich meine Existenz zu führen habe, niemand sonst kann dies tun; dass allein mir meine Existenz überantwortet ist, keinem anderen. Mir stehen Möglichkeiten offen, ich muss aus diesen Möglichkeiten wählen. Selbst wenn ich einen anderen an meiner statt entscheiden lasse, geht dem doch immer meine Entscheidung voraus, dies einem anderen zu überantworten. Ich wähle die Möglichkeit, den anderen für mich wählen zu lassen. Daher ändert auch das Abgeben von konkreter Verantwortung nichts am Grundsatz, dass mir meine Existenz überantwortet ist.
In diesem Überantwortetsein eigener Existenz liegt ein forderndes Moment, das bisweilen überfordernd ist. Eben weil mir in jedem Augenblick unzählige Möglichkeiten offenstehen und ich gezwungen bin, eine Wahl zu treffen, für die ich Verantwortung zu tragen habe, geht mit Existenz immer auch ein gewisser Lastcharakter einher. In letzter Konsequenz, wie Sartre ausführt, trage ich volle Verantwortung für mich und die Welt, in der ich lebe. Sich dieser Verantwortung uneingeschränkt zu stellen, ist überwältigend, weshalb hier tendenziell ausgewichen wird.
Ohnehin tendiert der Mensch dazu, sich den Alltag so einzurichten, dass der Lastcharakter der Existenz erträglicher wird; so findet er beispielsweise in Form von Gewohnheiten und Ritualen überdauernde Antworten auf wiederkehrende Entscheidungssituationen. Darin liegt keine moralische Wertung; diese Tendenz des Sichleichtmachens charakterisiert schlicht die Existenz des Menschen, der dem Lastcharakter eigenverantwortlichen Existierens nicht entkommen kann.
Ergebnis: Menschsein zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch Seinsverständnis hat und sich seiner selbst in einer Welt gewahr ist; dass dem Menschen seine Existenz überantwortet ist, er sie vollziehen muss. Im Existenzvollzug leuchten Möglichkeiten auf, aus denen er wählen kann, wählen muss (darin liegen Freiheit wie auch Lastcharakter des Menschseins begründet). Indem er dies tut, verhält er sich zu sich selbst und zur Welt, formt er sich als Selbst-in-einer-Welt. Damit ist Heideggers Ausgangsthese klarer: Eben weil mir meine Existenz überantwortet ist und ich immerzu gezwungen bin, mich zu mir selbst und der Welt zu verhalten, aus meinen Möglichkeiten frei zu wählen und dafür Verantwortung zu tragen, geht es mir in meinem Sein immer schon um dieses Sein selbst – die Grundstruktur menschlicher Existenz.
Wir müssen zwar immer wählen, aber wir wählen nicht immer frei. Oft genug werden unsere Handlungs-Möglichkeiten gegen unseren Willen eingeschränkt, wie zur Zeit durch die Corona-Maßnahmen. Dann wählen wir bewusst und unbewusst die Handlung mit dem geringsten Verlust an erwarteter Wirkung. Dies führt zu einem negativen Motiv, das geringste Übel wird gewählt. Dies schadet nicht nur unserem Wohlbefinden und unserer Gesundheit, es hat viele weitreichende negative Wirkungen auf Mitmenschen, Ressourcen und Umwelt, aber auch auf die Qualität und Quantität von Leistungen, sowie deren mögliche Preise.
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Hallo Alfred,
Danke für dein Kommentar!
Ich werde noch ein wenig mehr darüber nachdenken.
Eine Sache, die mir sofort auffällt: Wenn du von… „werden unsere Handlungs-Möglichkeiten gegen unseren Willen eingeschränkt, wie zur Zeit durch die Corona-Maßnahmen“… sprichst, wen meinst du dann? Die „Gesellschaft“ Allgemein? Ich begegne etlichen Menschen, deren Willen es absolut entspricht, diese Maßnahen durchzusetzen. Ja die sogar die Kontrollfunktion übernehmen, andere darauf hinzuweisen ,- freundlich ausgedrückt.
Das geringste Übel verstanden als >sollcherlei Maßnahmen über uns ergehen lassen< im Sinne der "Gesundheit" ist, und da stimme ich dir sehr zu, hat weitreichende negative Auswirkungen auf alles Lebendige.
Was du mit "aber auch auf die Qualität und Quantität von Leistungen, sowie deren mögliche Preise" meinst verstehe ich noch nicht recht. Kannst du das mir zu liebe erläutern?
Liebe Grüße
Felix
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